1 – Ein Souvenir der besonderen Art
Das Ereignis, das Ilona Kreutzfelds Leben eine schicksalhafte Wendung geben sollte, kündigte sich in Form eines Mannes an, der gegen 15 Uhr 30 an der Kreutzfeldschen Haustür klingelte. Die Journalistin hatte eben ihre Gartenarbeit beendet und war hereingekommen, um einen Tee aufzusetzen, als sie das Schrillen der Türglocke hörte.
"Hallo Peter, du bist zurück aus dem Urlaub?", lachte sie und schloss den braungebrannten, hageren Endvierziger, der über das ganze Gesicht strahlend vor ihr stand, vertraut in die Arme.
"Ich bin gestern Morgen eingetroffen mit dem Flugzeug", meinte der Mann und drückte sie fest an sich. "Und noch nicht ganz da, mental meine ich, wegen dem Jetlag."
Ilona schob ihn in Richtung Wohnzimmer. "Du hattest doch irgendwas von Karibik gesagt oder USA, nicht wahr?"
"Stimmt beides. Ich war auf St. Croix in der Karibik, gehört aber zu den USA."
"Gut, wir unterhalten uns gleich ausführlich. Doch vorher mach ich einen Tee." Sie rief hinauf zum Arbeitszimmer ihres Mannes. "Martin, komm mal runter! Peter ist zurück aus seinem Urlaub. Und gleich gibt's Tee."
Ihr Mann stieg die Treppe herunter und drückte Peter Bredow freundlich, aber nicht überschwenglich die Hand. Bredow war ein Jugendfreund Ilona Kreutzfelds, der letzte aus ihrer ehemaligen Clique, mit dem sie noch regelmäßig Kontakt hatte und der gelegentlich zu Tee und Gesprächen vorbeikam. Martin Kreutzfeld hatte diese Bekanntschaft 'geerbt', doch war Bredow noch immer in erster Linie ein Freund seiner Frau. Und so überbrückte er die Minuten, bis Ilona mit dem Teegeschirr zurückkehrte, mit einer eher pflichtgemäßen Konversation.
"St. Croix in der Karibik, habe ich das eben richtig mitgehört?", begann Martin.
"Ja, die Hauptinsel der US-Virgin-Islands. Die liegen neben Puerto Rico", erläuterte Bredow. "Die Hauptstadt ist Christiansted, aber ich war in einem kleinen Städtchen weiter südlich."
"Und das Wetter war sicher besser als hier in Hamburg, nicht?"
"Sommerlich warm, aber gut auszuhalten dank der immer wehenden Meeresbrise. Ein absolut traumhaftes Klima."
Inzwischen war Ilona mit einem großen Tablett hereingekommen, auf dem Tassen und Löffel, eine Teekanne, Zuckerdose, eine halbe Zitrone, eine Schüssel mit Teegebäck sowie ein kleiner Marmorkuchen nebst Tellerchen und Kuchengabeln vereint waren.
"Das tröstet über das Hamburger Grau hinweg, das einen nach der karibischen Sonne wirklich runterziehen kann", lobte Peter Bredow und fuhr fort: "Übrigens habe ich euch, wie in jedem Jahr, etwas mitgebracht."
Und nun fischte er diese Plastikschachtel aus einem Beutel und stellte sie mit den Worten "Das müsste euch Biologen eigentlich interessieren" auf den Tisch.
Der Blick in die Box verschlug Ilona Kreutzfeld für einen Moment die Sprache.
So etwas hatte sie noch nie gesehen. So ein 'Ding', denn eine andere Bezeichnung fiel ihr zu dem, was da in der Schachtel von 30 mal 40 Zentimetern vor ihr lag, nicht ein.
Das 'Ding' war ein länglich-ovales, nach oben hin kegelförmiges dunkelgrünes Gebilde, das ein wenig an eine Nacktschnecke, Seeanemone oder Qualle erinnerte.
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Oben ragten zwei knospen- oder ohrenförmige Gebilde von etwas hellerem Grün heraus. Ilona berührte das unbekannte Objekt vorsichtig mit dem Zeigefinger und verzog das Gesicht, als sie die ungewohnte Oberfläche an ihrer Haut spürte. Das 'Ding' war erheblich fester als eine Schnecke, aber nicht starr, sondern von gummiartiger Konsistenz. Sie hob es vorsichtig aus der Schachtel und betrachtete den 'Fuß' von unten; eine bleiche, lamellenartige und etwas schleimige Struktur, an der die Sandkörner kleben blieben.
Als Wissenschaftsjournalistin und studierter Biologin war ihr sofort klar, dass das 'Ding' - sofern es sich um ein Lebewesen handelte - in kein bekanntes Schema passte.
Gegen eine höhere Pflanze sprachen das Fehlen von Wurzeln und die nachgiebige Beschaffenheit der Oberfläche. Gegen ein Tier sprachen das Fehlen von Bewegungen, von Augen oder sonstigen Sinnesorganen sowie die blattähnlichen 'Ohren', die oben herausragten. Diese 'Blattknospen' und die Farbe, die an das typische Blattgrün von Pflanzen erinnerte, wiesen eher auf etwas Botanisches hin.
"Es scheint etwas Lebendiges zu sein; vielleicht braucht es Wasser", meinte Ilona und ging in die Küche, um die Gießkanne herbeizuschaffen. Sie übergoss das 'Ding' vorsichtig und starrte es erwartungsvoll an.
"Wirklich irre", begeisterte sie sich. "Weder Tier noch Pflanze und doch etwas von beiden. Total verrückt!"
"Ich weiß nicht", warf ihr Mann ein. "So etwas gibt's doch gar nicht. Alle höheren Lebewesen zählen entweder zum Tier- oder zum Pflanzenreich. Da gibt es nichts dazwischen. Wie willst du beurteilen, ob das Ding nicht doch in eine systematische Kategorie gehört, die du nicht kennst? Das kann nur ein Spezialist. Vielleicht ist es eine Art Seeanemone, die sich auf das Landleben spezialisiert hat. Oder eine Symbiose zwischen einem sesshaften tierischen Organismus und einer Algenform. Wir können nicht mal wissen, ob es etwas Lebendiges ist. Heutzutage gibt es Kunststoffsorten, die fühlen sich wie lebendes Gewebe an. Vielleicht ist es nichts anderes als ein Kinderspielzeug, ein Fantasy-Monster aus Plastik."
"Du hast mal wieder eine äußerst ernüchternde Art, an die Dinge heranzugehen, aber keine Fantasie", entgegnete Ilona. "Du würdest es sogar für einen Scherz halten, wenn ein leibhaftiger Marsmensch vor dir stehen würde nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein. Für mich ist eindeutig, dass dieses Ding hier nicht aus Kunststoff besteht, sondern eine bislang völlig unbekannte Lebensform darstellt. Um was es sich wirklich handelt, das werden wir morgen herauskriegen. Ich bringe es zur Uni, da kenne ich einen Professor, der wird uns weiterhelfen. Jedenfalls ist es ein tolles, einmaliges Mitbringsel." Sie wandte sich wieder direkt an Peter. "Wie hast du es denn gefunden? Und überhaupt, du hast noch gar nichts erzählt."
"Ich bin ja auch nicht zu Wort gekommen," lachte Peter. "Als ich nach dem Flug aus der Maschine trat, war ich wirklich überrascht: Eine extrem angenehme, milde Luft und dazu so ein fremder Duft, wirklich tropisch und aufregend vom ersten Moment an. Das Zimmer war okay, die Anlage insgesamt auch. Und der Strand - traumhaft. Ich bin ein paar Mal schnorcheln gewesen und habe einen Tauchkurs mitgemacht. Sogar Haie habe ich gesehen, zum Glück nur auf Distanz.
Meistens bin ich allerdings nur den ganzen Tag am Strand gelegen, mal direkt in der Sonne oder im Schatten der Bäume, wenn es zu heiß wurde. Und abends nach dem faulen Tag bin ich erst essen gegangen und später in eine der Bars und Tavernen oder auch mal in die Disco, habe die eine oder andere Bekanntschaft gemacht. Wie das halt so ist in den Ferien."
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"Und wann bist du auf das komische Ding da gestoßen?", meinte Ilona.
"In der letzten Ferienwoche machte ich eine Inselrundfahrt in einem gemieteten Jeep und kurvte planlos herum. Am frühen Nachmittag beim Picknick am Straßenrand ist mir das Ding in der Vegetation aufgefallen. Es faszinierte mich, obwohl ich gar nicht sagen konnte, warum. Irgendetwas Besonderes war daran, das war mir klar, obwohl ich von Biologie nicht viel Ahnung habe. Dann habe ich es, wie unter einem seltsamen Zwang, eingepackt und mitgenommen."
"Irgendwie Wahnsinn, der reinste Wahnsinn, dieses Ding", schwärmte Ilona. "Wir sollten einen Namen dafür finden."
"Wie wäre es mit: Ohrenschnecke", schlug Martin mit einem Grinsen vor, das erkennen ließ, wie wenig er von der ganzen Sache hielt.
"Man sollte andeuten, dass es wie eine Mischung zwischen Tier und Pflanze wirkt", meinte seine Frau hingegen völlig ernsthaft. "Also vielleicht: Blätterschnecke oder Quallenblume, so in der Art."
"Mir kommt noch eine andere Idee", warf Peter ein. "Es handelt sich doch um ein bislang unbekanntes Wesen, zumindest für uns. Und für unbekannte Flugobjekte gibt es die Bezeichnung Ufo - unidentifiziertes fliegendes Objekt. Wir könnten es Ulo nennen - unidentifiziertes lebendes Objekt."
"Super!", rief Ilona aus. "Das genau ist es. Und ich werde das Ulo der Welt bekannt machen. Morgen gehe ich zu meinem Prof am Zoologischen Institut. Und die Ergebnisse werden von ihm und mir gemeinsam in einer Fachzeitschrift publiziert, dann komme ich endlich einmal zu einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Aber vorher schreibe ich einen Exklusivbericht für eines der großen Magazine. Ich sehe schon die Überschrift vor mir: Ulo - das Rätsel der Quallenblume - Wissenschaftler entdeckten völlig neuartiges Lebewesen. Wir werden berühmt werden!"
"Also, meinst du das wirklich ernst?", nölte Martin und schaute unwirsch. Irgendetwas an der ganzen Sache schien ihm nicht zu behagen - vielleicht die in seinen Augen überdimensionierte Begeisterung seiner Frau, die Tatsache, dass hier etwas in seinem Wohnzimmer lag, wofür es keine Erklärung zu geben schien oder nur der Neid auf seinen Bekannten Peter Bredow, der ihnen von seinem sonnigen Urlaub an fernen Stränden vorschwärmte, während es in Hamburg seit Wochen nur geregnet hatte.
Ilona Kreutzfeld fiel es nicht leicht, morgens aus dem Bett zu kommen. Schlaftrunken und noch ganz wackelig auf den Beinen, wankte sie ins Badezimmer. Meistens war Martin vor ihr auf, und sie bewunderte die scheinbare Leichtfüßigkeit, mit der er nach dem Piepton des Weckers aus dem Bett sprang. Vielleicht war es aber nur sein Pflichtgefühl, so ging ihr manchmal durch den Kopf, das ihn wie von der Tarantel gestochen aufschrecken und sich in das alltägliche Leben werfen ließ. Ilona hingegen drehte sich regelmäßig noch mal um, wartete, bis ihr Mann aus dem Bad zurückkam, hängte gern nochmals fünf Minuten dran, in denen sie oft herrlich zu träumen pflegte.
Irgendwann aber musste sie heraus, wie jeden Tag mit verkniffenen Augen und steifem Rücken. Das kalte Wasser, das sie über das Gesicht laufen ließ, machte sie ein wenig wacher. Erst als sie in den Slip geschlüpft war, sich die Socken hochzog und die Bluse in die Jeans stopfte, begann ihr Gehirn langsam anzuspringen, und ihr fiel das Ulo wieder ein.
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Gleich heute würde sie 'ihren Prof ' an der Uni anrufen, Dr. Walberg, Mitarbeiter am Zoologischen Institut, der den Lehrstuhl für vergleichende Anatomie der Wirbeltiere und Evolutionsbiologie innehatte. Sie hatte ihn schon öfter konsultiert, wenn sie fachlichen Rat für einen Artikel brauchte. Da er sich stets als ausgesprochen freundlich und kooperativ erwiesen hatte, nutzte sie sein Wissen und seine Kontakte, wenn sie in biologischen Fragen nicht weiterkam. Sie kannte ihn von einem Interview und war ihm gelegentlich auf Kongressen begegnet - ein immer gut gelaunter, sympathischer Mann. Auf der einen Seite ganz Professor und kompetent wirkender Wissenschaftler, auf der anderen jedoch nahbar, geduldig, freundlich und irgendwie verspielt wirkend, so als würde er sich und seine Wissenschaft nicht zu ernst nehmen.
Als Ilona ins Wohnzimmer trat, um das Ulo nochmals zu betrachten, stieß sie einen Ruf der Verwunderung aus: Die merkwürdigen Ohren oder Knospen waren ein deutlich sichtbares Stück gewachsen. Sie stürmte in die Küche, wo der Rest der Familie bereits versammelt war: Martin und ihr 16jähriger Sohn Michael.
"Guten Morgen, ihr Lieben", rief sie als sie den Raum betrat und sprudelte gleich los: "Habt ihr schon gesehen? Es ist gewachsen, dieses komische Wesen, das mir Peter mitgebracht hat, die Blätter sind größer geworden. Es lebt tatsächlich!" Sie ging auf ihren Mann zu, gab ihm einen Kuss und setzte sich ihm gegenüber auf ihren angestammten Platz.
"Ist ja interessant", grummelte Martin vor sich hin in einer Tonlage, die so viel Aufregung erkennen ließ, wie ein Nachrichtensprecher beim Verlesen der Wetterprognose.
Auch Michael hatte außer einem müden "Moin" nichts weiter von sich gegeben.
"Ihr seid wirklich Ignoranten", seufzte Ilona. "Nichts interessiert euch, nicht die größten Rätsel der Welt. Selbst, wenn sie euch frei Haus geliefert werden."
"Nun mal sachte", warf Martin ein. "Es ist schließlich früh am Morgen, da muss man nicht gleich alle Rätsel dieser Welt lösen."
"Außerdem weiß ich wirklich nicht, was an diesem grünen Klumpen mit Ohren so interessant sein soll", meldete sich nun Michael zu Wort.
"Na gut, schweigen wir also", antwortete Ilona. "Ich werde das auch alleine rauskriegen."
"Schieb mal den Käse rüber", knarzte Michael und begann sich das vierte Brot zu schmieren.
"Meinst du nicht, drei Scheiben reichen?", warf die Mutter ein.
"Hör doch bitte auf, mir irgendwas vorzuschreiben", brauste ihr Sohn auf. "Das konntest du machen, als ich kleiner war. Aber nun bin ich erwachsen und kann so viele Brote essen wie ich will. Außerdem bin ich überhaupt nicht mehr dick, falls dir das noch nicht aufgefallen ist."
Ilona zuckte resignierend mit den Schultern. Irgendwie waren diese morgendlichen Gespräche völlig nutzlos. Sie hatte sich vorgestellt, wenn der Junge groß wäre, dann könne man vernünftig mit ihm reden. Stattdessen hatte sich Michael in der letzten Zeit in sich zurückgezogen. Nur selten ließ er durchblicken, was ihn bewegte, was er dachte und empfand. Und wenn es mal zu Diskussionen kam, dann endeten sie meistens mit großen Missverständnissen oder explosiven Szenen.
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Nachdem sie Michael und Martin mit Abschiedskuss und geschmierten Pausenbroten auf den Weg geschickt hatte, setzte sich Ilona nochmals an den Frühstückstisch und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Diese ruhigen Minuten, wenn der erste Trubel vorbei war und die Familienmitglieder das Haus verlassen hatten, genoss sie besonders. Sie überließ sich ganz entspannt ihren Gedanken und überlegte, was alles zu erledigen war. In solchen Momenten kamen ihr mitunter die besten Ideen.
Der Montagmorgen war leider von einigen missliebigen Pflichten geprägt. Die Waschmaschine war anzustellen, ein großer Einkauf war zu organisieren, und gegen neun Uhr würde Maria, ihre Haushaltshilfe, erscheinen und Anweisungen erwarten, was am dringlichsten zu tun sei. Maria müsste sie auch das Ulo zeigen und ihr einschärfen, diese neue "Pflanze" weder anzurühren noch hin- und herzurücken.
Ilona huschte nochmals ins Wohnzimmer hinüber, um einen Blick auf das seltsame Lebewesen zu werfen. Sie betrachtete es von allen Seiten, von nah und von fern, doch es war keinerlei weitere Veränderung zu bemerken. Nichts tat sich. Das Ulo blieb rätselhaft, regungslos und stumm.
Sie ging also wieder in die Küche, stellte Käse, Wurst, Aufschnitt, Butter in den Kühlschrank, räumte Teller, Tassen, Messer in die Spülmaschine, wischte den Tisch mit einem feuchten Lappen ab. Sie stellte "Darwin", dem kastrierten Kater, der im Hause Kreutzfeld ein weitgehend eigenständiges Leben führte, ein paar Brekkies sowie frisches Wasser hin, marschierte anschließend in den Keller, raffte eine Ladung 60-Grad-Wäsche zusammen und warf die Maschine an. Sie machte Maria darauf aufmerksam, dass neben den Routinearbeiten die Fenster von Innen geputzt werden sollten und kritzelte dann einen ellenlangen Einkaufzettel für die nächsten Tage. Und bei all diesen lästigen Tätigkeiten fluchte sie im Stillen vor sich hin, dass die ganze Verantwortung für den Haushalt auf ihr lastete, dass weder Martin noch Michael unaufgefordert irgendwo Hand anlegten.
Nachdem alles erledigt war, stieg Ilona hinauf in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock des Einfamilienhauses. Aus dem Fenster blickte sie auf den großen Garten, auf hohe, alte Fichten und einen riesigen Apfelbaum, dessen Äste sich unter der Last zahlloser, prächtig gewachsener Exemplare der Sorte Boskop bogen. Dieses Jahr war ein gutes Apfeljahr gewesen und die Kreutzfelds hatten die Früchte auf Kuchen und als Kompott massenweise verzehrt. Ilona fühlte sich wohl hier in ihrem Haus in Hamburg-Volksdorf. Die Gegend war ruhiger als das Zentrum, es gab viele Einfamilienhäuser mit Gärtchen herum, die ganze Region war durch und durch grün.
Die Journalistin knipste den Rechner an und wartete, bis das System hochgefahren war und der Desktop erschien, auf dem alle Elemente, die sie zum Kommunizieren, zum Arbeiten oder zur Steuerung des Hauses benötigte, übersichtlich angeordnet waren.
Sie klickte ihre Mailbox an, doch es erschien nur die Mitteilung "Keine neuen Nachrichten".
Nun öffnete sie das Fenster "Privates" auf dem Desktop und klickte dann "Heizung" an. Ein Übersichtsfenster erschien, auf dem die einzelnen Räume des Hauses eingezeichnet waren, sowie für jeden Raum die gewünschten Temperaturen abhängig von der Tageszeit. Sie korrigierte in Michaels Zimmer die Einstellung, indem sie die Temperatur auf "abgesenkt" bis 20 Uhr einstellte. Als nächstes klickte sie auf das Symbol "Privates" und wählte das Stichwort "Einkaufen". Sofort loggte der Rechner in die Homepage des Tele-Supermarktes ein und Ilona begann, aus der elektronischen Warenliste Punkt für Punkt von ihrem Einkaufszettel abzuhaken.
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Endlich war es soweit und die Journalistin konnte sich ihrem eigentlichen Tagewerk widmen. Zunächst erledigte sie das, was ihr am wichtigsten war und suchte aus ihrer Informanten-Datei Dieter Walberg, ordentlicher Professor am Zoologischen Institut der Universität Hamburg. Ein Klick auf die Telefonnummer und der Computer stellte die Verbindung her.
"Guten Tag, Ilona Kreutzfeld hier, die Journalistin. Dr. Walberg, vielleicht erinnern Sie sich, wir hatten vor einiger Zeit miteinander zu tun. Ich hatte über ihre Arbeiten bezüglich der Verwandtschaft der Wale berichtet."
"Einen Moment, ich muss mal überlegen", tönte es aus dem Apparat. "Das war doch fürs Abendblatt, nicht wahr?"
"Stimmt genau. Heute wollte ich Sie jedoch wegen einer anderen Angelegenheit um fachlichen Rat bitten. Ein Bekannter von mir hat aus der Südsee ein merkwürdiges Lebewesen mitgebracht, und ich suche nun jemanden, der sich systematisch auskennt und mir sagen kann, um was es sich handelt."..."Nein, ich kann nicht mal sagen, ob es ein Tier oder eine Pflanze ist. Ich bin ja selbst Biologin von der Ausbildung her, aber ich weiß überhaupt nicht, wo ich es unterbringen soll."..."Ja, ich glaube es macht Photosynthese, aber es scheint keine Wurzeln zu haben. Und bewegen tut es sich auch nicht."..."Es lebt auf dem Land, nicht im Wasser. Zumindest hat mein Bekannter es auf trockenem Boden gefunden und ich habe es bislang in einer Schachtel aufbewahrt, feucht, aber nicht im Wasser. Und die blattähnlichen Knospen haben sich vergrößert."..."Nein, ein Moos oder Farn ist es sicher nicht. Also, am liebsten würde ich es Ihnen vorbeibringen und zeigen. Wann hätten Sie denn Zeit?"..."Heute Nachmittag, 16 Uhr? Ja, prima, das ist wirklich gut. Also bis nachher - und vielen Dank."
Ilona legte auf und war sehr zufrieden. Walberg hatte sich am Telefon interessiert gezeigt und den baldigen Termin angeboten. Er war wirklich ein netter Mann, fand sie.
Offen, verständnisvoll und nie ungeduldig; ein Wissenschaftler, mit dem man gerne zusammenarbeitete.
Nun konnte die Journalistin zu ihrem eigentlichen Tagewerk übergehen. Sie sah durch, was auf ihren abonnierten News-Channels im Internet eingetroffen war, klickte die Websites diverser Wissenschaftsdienste an, checkte Abstracts sowie jede Menge Pressemitteilungen. Drei Themen schienen ihr interessant genug, um daraus kurze Meldungen zu machen.
Unversehens schweifte sie jedoch mit ihren Gedanken ab; es war ihr eine Idee gekommen. Sie loggte sich in die Datenbank des Zoologischen Instituts ein, rief den elektronischen Bestimmungsschlüssel auf und begann unter den verschiedensten Stichworten nach einem Lebewesen zu fahnden, das dem Ulo entsprach. Doch immer wieder blieb sie schon an grundlegenden Verzweigungspunkten hängen. Das Programm kannte einfach nichts dem Ulo auch nur entfernt Vergleichbares. Handelte es sich überhaupt um ein Lebewesen, grübelte die Journalistin? Die Antwort lief auf ein eindeutiges Ja hinaus. Eine außerirdische Kreatur? Möglich, doch wie sollte sie auf die Erde gelangt sein? Aus dem Weltall hätte Ilona eher etwas Intelligentes, etwa Agiles erwartet, ein Lebewesen, das in der Lage war eine Art Raumschiff zu steuern. Doch der Gummiklumpen mit Ohren machte absolut keinen intelligenten Eindruck.
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Aber wenn es ein irdisches Wesen war, warum ließ es sich dann in keine der bekannten Kategorien einordnen? Konnte eine spontane Mutation ein derart neues Lebewesen geschaffen haben? Ilona hatte in den letzten Jahren viel über neue Theorien der Evolution gelesen, und darin hatte sich mehr und mehr herauskristallisiert, dass die urgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen immer durch plötzlich auftauchende, neuartige Formen sprunghaft vorangeschritten war. Über 'zig Jahrmillionen hatte sich nichts getan und dann, gleichsam über Nacht, war eine neue Klasse Lebewesen aufgetaucht - ohne dass man Übergangsformen gefunden hatte. So war es mit den ersten Landtieren - den Uramphibien - gewesen, ebenso mit den Sauriern und den Vögeln.
Selbst der Mensch war unvermittelt aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgetaucht.
So viel die Evolutionsforscher auch in den letzten Jahren an aufregenden Neuigkeiten herausgefunden hatten: Es waren mehr neue Fragen aufgetaucht als Antworten gegeben worden, und das "Woher" allen Lebens blieb ein rätselhaftes schwarzes Loch. Und noch weniger, so mussten die Wissenschaftler schmerzlich konstatieren, ließ sich die Frage nach dem Wohin, nach der Zukunft beantworten.
Das Blinken des Cursors auf dem Bildschirm brachte Ilona in die Realität zurück.
Sie brach den Kontakt zur Datenbank ab und wandte sich wieder ihrem alltäglichen Brot zu, den "kleinen" wissenschaftlichen Neuigkeiten. Ilona las sich durch die Originalarbeiten, recherchierte Hintergrundmaterial und rief noch den einen oder anderen Experten an, um die Stories rund zu machen. Daraus formulierte sie Nachrichten, die eine gute Chance hatten, auf den vermischten Seiten der Tageszeitungen oder als Notiz in den Wissenschaftsteilen aufzutauchen. Die schickte sie über ihren E-Mail-Verteiler an eine Reihe von Tageszeitungen, die sie regelmäßig belieferte.
Inzwischen war es fast drei Uhr geworden, und Ilona blieb nur noch wenig Zeit, bevor sie sich zum Zoologischen Institut aufmachen musste. Sie ging nach unten in die Küche, wo Martin vor einem Kaffee saß. Er war schon seit einer guten Stunde zu Hause, hatte kurz seinen Kopf in Ilonas Zimmer gesteckt und sich dann Essen in der Mikrowelle warm gemacht, als sie sagte, sie wolle noch eben ihre Meldungen zu Ende schreiben, bevor sie kommen könne.
Ilona schmierte sich eine Käsestulle und setzte sich zu Martin, schenkte sich ebenfalls einen Kaffee ein.
"Wie war's in der Schule?", fragte sie ihn.
"Es gab nichts Besonderes, nichts was dich interessieren würde", antwortete er.
"Und bei dir?"
"Es lief eigentlich ganz gut heute. Ich hab drei Meldungen losgeschickt, und gleich will ich zum Zoologischen Institut wegen dem Wesen, das Peter mitgebracht hat."
"Wann kommst du wieder?"
"Weiß noch nicht, schätze nicht so spät, zwischen sieben und acht."
"Dann warte ich nicht unbedingt mit dem Abendbrot. Wo ist denn die Zeitung?"
'Irgendwie ist dieses Alltagsleben ganz schön eingefahren,' schoss ihr auf dem Weg nach oben durch den Kopf. 'Wird Zeit, dass wir mal wieder verreisen.' Manchmal wünschte sie sich etwas mehr Spannung in ihrem Leben, mehr Abwechslung. Nicht die ewig gleichen Gespräche. Nicht diese Routine. Nicht diese langweilige Harmonie.
Es war Zeit, zu gehen. Ilona griff ihre Arbeitstasche, ging hinunter ins Wohnzimmer, packte die Box mit dem Ulo sorgfältig in einen Stoffbeutel, und verabschiedete sich mit einem "Bis später!" von Martin.
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Als sie vor die Tür trat, wurde ihr bewusst, dass es ein schöner Spätherbsttag war - seit langen Wochen der erste. Noch am Morgen hatte eine leichte Wolkendecke über der Stadt gehangen, die dann aufgerissen war und der Sonne erstmals wieder eine Chance gab. Nun zogen nur noch kleine Cumulus-Wolken über das klare Blau des herbstlichen Himmels. In den Sonnenstrahlen war es warm, doch merkte man der Luft und auch den Pflanzen an, dass der Sommer vorüber war.
Die Laune der Journalistin stieg noch durch das freundliche Wetter. Sie hatte ihre Tagesarbeit erledigt und konnte das Rätsel des unbekannten Lebewesens zu lösen versuchen.
Dieter Walberg hockte in gekrümmter Haltung vor seinem Schreibtisch im zweiten Stockwerk des Zoologischen Instituts und seufzte wegen der Papiere, die vor ihm ausgebreitet lagen. Dank sparsamer Haushaltsführung hatte seine Arbeitsgruppe ihre diesjährigen Mittel bei weitem nicht ausgeschöpft, und nun musste schnell ein Forschungsantrag formuliert werden, um noch Geräte anzuschaffen - sonst würden die Gelder verfallen. Die Bürokratie kostete einen schon Nerven.
"Guten Tag, Professor Walberg! Ilona Kreutzfeld ist mein Name."
Er hatte das Klopfen an der offenen Tür gar nicht gehört und blickte auf. Eine Frau Anfang 40, mit kurzen blonden Haaren, durchschnittlich groß, in Jeans und hellgrauem Mantel stand im Rahmen. Die Frisur fast ein bisschen frech für eine gestandene Frau und gar nicht mal unattraktiv die Erscheinung, stellte Walberg fest. Das musste die Journalistin sein, die sich heute Morgen angekündigt hatte. Aber was, grübelte er, war doch gleich das Thema? "Ach ja, die Reporterin. Einen Moment noch; nehmen Sie Platz."
Er deutete auf einen der Sessel, die in der Ecke seines Arbeitsraumes um ein Tischchen herum gruppiert waren. Dann las er den Antrag zu Ende, setzte seine Unterschrift darunter und heftete ihn in einen Ordner.
Die Frau hatte unterdessen Mantel, Aktentasche und einen Beutel abgelegt, sich steif auf den Stuhl gesetzt und ihn fixiert, während er weiter in die Papiere vertieft war.
"Sie glauben gar nicht, wie viel Zeit man mit Verwaltungskram zubringt", meinte er, legte den Ordner weg und ging auf die Journalistin zu. "Anträge, Abrechnungen, Sitzungen und so weiter und so fort. Man kommt kaum noch zum Forschen".
Er schüttelte der Frau die Hand und lachte sie dabei mit seinen Augen an. Wenn er sich nicht gerade über die Bürokratie ärgerte, war er ein überwiegend fröhlicher Charakter.
"Darf ich Ihren Mantel in den Schrank hängen?", fuhr er fort, und wurde sich eines Versäumnisses bewusst: Er hätte der Dame das Kleidungsstück schon beim Eintreten abnehmen müssen, empfand er sich doch als Gentleman alter Schule. Das suchte er wieder gutzumachen, indem er nach dem Verstauen des Mantels einen Kaffee anbot.
Im Nebenzimmer stellte er die stets gefüllte Kaffee-Thermoskanne, zwei Tassen, Löffel, Zucker, Dosenmilch und Kekse auf einem Tablett zusammen, brachte das alles zurück zum Tisch und ließ sich seiner Besucherin gegenüber in einen der Sessel fallen.
"So...", begann er langsam und gedehnt, während er eine der Tassen ergriff. "Sie sagten am Telefon, sie hätten ein Lebewesen gefunden, das Sie nicht einordnen können, richtig?"
Sein Gegenüber hatte inzwischen die Plastikbox aus dem Stoffbeutel genommen und auf den Tisch gehievt.
"Da ist es. Ich habe so etwas noch nie gesehen", erklärte die Frau.
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'Mit was für Anliegen diese Journalisten manchmal kommen', dachte Walberg. 'Aber die Frage wird sich schnell klären lassen, wahrscheinlich reicht ein Blick, eine flüchtige Begutachtung. Notfalls muss ich in meinen Bestimmungsbüchern nachschlagen, dann ist die Sache erledigt'.
Mit einem Blick, der die routinemäßige Selbstsicherheit des Fachmannes durchschimmern ließ, schaute er auf die Hand der Frau, während sie den Deckel anhob.
Dann schossen seine Augenbrauen unwillkürlich in die Höhe. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass auch er, der Spezialist, noch nie etwas Vergleichbares zu Gesicht bekommen hatte.
"Das ist ja...", begann er und vergaß den Satz zu beenden, während er die Box drehte, um das Objekt von allen Seiten zu betrachten. "Darf ich es herausnehmen?", fragte er und fasste das Wesen vorsichtig von unten, als die Journalistin genickt hatte.
"Erstaunlich", war sein nächstes Wort. "Es wirkt wie eine Mischung aus tierischen und pflanzlichen Elementen."
Einige Minuten lang starrte der Professor es intensiv an, mal von näher, mal von etwas weiter weg, betastete vorsichtig die Oberfläche, den gummiartig wirkenden Fuß und die blattähnlichen Strukturen, die oben herauswuchsen. Er holte eine Lupe und begutachte die Oberfläche noch eingehender. Dann wandte er sich der Frau wieder zu: "Ich würde gerne einige Proben entnehmen. Wir könnten hier im Institut die Zellstruktur im Elektronenmikroskop ansehen, und wir könnten DNA-Tests machen.
Es sind nur winzige Gewebestückchen notwendig. Wären Sie damit einverstanden, wenn ich, sagen wir, ein kleines Stückchen vom Fuß und eines von den blattähnlichen Strukturen abknapse?"
"Klar", antwortete die Journalistin, "Solange Sie es dabei nicht ernsthaft beschädigen."
"Gut", meinte Walberg. "Gehen wir ins Labor."
Er nahm das unbekannte Lebewesen und trug es durch eine Seitentür in den Laborraum.
Vollgestopft mit Tischen, Schränken, Mikroskopen und kleineren Apparaturen sowie Regalen, auf denen sich die Chemikalien und Gläser drängten, wirkte er eng, obwohl er größer war als das Büro. Der Zoologe stellte das Ulo auf einem der Tische ab und begann, die verschiedenen Chemikalien und Gefäße für die Untersuchungen zusammenzustellen.
"Für die DNA-Analyse ist höchste Sauberkeit notwendig, da sonst unsere eigene Erbsubstanz oder die irgendwelcher Mikroorganismen das Ergebnis verfälschen könnte", erläuterte er, während er aus einem Schrank einen Kittel sowie einen sterilen Mundschutz hervorholte. "Schon eine abgeschilferte Hautzelle oder ein Bakterium können die Probe verunreinigen und damit unbrauchbar machen."
Walberg stellte das Ulo unter eine Abzugshaube, die gefilterte, sterile Luft über das Versuchsobjekt strömen ließ, setzte den Mundschutz auf und striff sich Gummihandschuhe über. Dann griff er eine Pinzette und ein winziges Skalpell, knapste je eine kleine Gewebeprobe vom "Fuß" und von einem der "Blätter" des Ulo ab. Jede dieser Proben viertelte er, bugsierte zwei in je einen der winzigen DNA-Analyse-Behälter, den er sofort verschloss, gab die anderen beiden in kleine Gläschen mit einer klaren Lösung.
Mit den Analyse-Behältern ging er hinüber in einen weiteren, kleinen Raum und wies die Journalistin an, ihm zu folgen "Die Technik ist heutzutage schon ziemlich ausgereift und voll automatisiert", erklärte Walberg während er die Behälter in die Öffnung eines großen, weißen Apparates schob. "Das Gerät führt die DNA-Vermehrung automatisch durch, mit zehn verschiedenen Polymerasen, das heißt, wir erhalten Daten über zehn verschiedene Gene. Die werden anschließend in einem Sequenzierer analysiert und heraus kommen die fertigen Kurven mit der Basenstruktur, also der genauen Reihenfolge der genetischen Buchstaben."
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Er versuchte, sich möglichst verständlich auszudrücken, denn er wusste nicht, welche Vorkenntnisse die Journalistin hatte. Doch sie nickte verständig und ließ durch ihre weitere Frage erkennen, dass sie mitdachte: "Und die anderen beiden Proben sind fürs Elektronenmikroskop?"
"Richtig. In dem ersten Gläschen ist eine Lösung mit einem Konservierungsmittel, das die Zellstrukturen stabilisiert sowie 20 Prozent Alkohol. Wir geben die Probe dann in eine Reihe weiterer Gläschen, die immer höhere Konzentrationen an Alkohol enthalten, bis sie vollständig entwässert sind. Zum Schluss kommt ein Kontrastmittel hinzu, das die Zellstrukturen im Elektronenmikroskop hervorhebt. Und dann wird es in ein Kunstharz gegossen, sonst könnten wir nicht die hauchdünnen Scheiben abschneiden."
Eine gute Stunde später war es soweit. Walberg hatte winzige Blöcke des Ulo-Gewebes erhalten, eingebettet in ein schnell gehärtetes Harz. Mit dem Ultramikrotom schnitt er hauchdünne Scheiben ab, bugsierte sie auf millimetergroße Kupfernetze und verstaute sie in einem speziellen Behältnis.
Die Journalistin hatte während dieser Arbeit ruhig in dem Laborraum gesessen und ließ sich die einzelnen Arbeitsschritte erläutern. Sie blickte ihn mit großen, gespannten Augen an, wenn er etwas erklärte, machte aber gleichzeitig einen leicht abgeschlafften, träumerischen Eindruck, vielleicht, weil der Tag sich dem Abend zuneigte und sie viel um die Ohren gehabt hatte.
Walberg erhob sich, nahm den Behälter mit den Kupfernetzchen und bedeutete der Frau, ihm zu folgen. Sie schritten den Flur entlang bis zum Elektronenmikroskop-Raum. Das riesige, metallisch glänzende Gerät gab ein leises Surren von sich - das Geräusch der Vakuumpumpe. Der Biologe setzte sich an einen Stuhl davor, zog den Probenträger aus dem Metallzylinder des Mikroskops und schraubte ihn auf. Er nahm eines der Kupfernetze mit der Pinzette und setzte es hinein. Mit einem klickenden Geräusch verschwand das Metallteil im Rumpf des Mikroskops und gleich darauf begann die Vakuumpumpe stärker zu arbeiten, um eingedrungene Luft abzusaugen.
"Machen Sie bitte das Deckenlicht aus", bat Walberg seine Besucherin und knipste das kleine Licht auf dem Pult vor sich an. Auch nach vielen Jahren Routine hatte diese Arbeit im schummerigen Licht, das Summen des hochtechnischen Geräts und der Anblick der riesigen, grün phosphoreszierenden Landschaften, die unter dem Mikroskop am Auge vorbeizogen, etwas Besonderes, nahezu Sakrales. Vor allem bei Untersuchungen, die etwas Wichtiges zu entdecken versprachen, konnte sich der Wissenschaftler einer gewissen Rührung nicht entziehen.
Angestrengt blickte er durch das Binokular des Gerätes und drehte so lange an den Positionierknöpfen, bis das Objekt ins Gesichtsfeld geriet. Er stellte scharf und wählte eine stärkere Vergrößerung.
"Die Zellen sehen pflanzlich aus, aber irgendwie untypisch. Sie haben keine festen Zellwände aus Zellulose, wie man sie normalerweise bei einer Pflanze erwarten würde.
Und dann sind dazwischen Zelltypen, die ich überhaupt nicht einordnen kann, zumindest nicht ins Pflanzenreich. Sie erinnern fast an Nervenzellen."
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"Darf ich mal sehen?", meinte die Journalistin und rückte näher heran. Der Biologe drehte ihr das Binokular zu und sie blickte auf das grüne Gewirr aus Zellen. Sie begann an den beiden Knöpfen zu drehen, die das Präparat seitlich und nach oben und unten verschoben und sah die in Wirklichkeit winzigen Strukturen wie riesige fußballfeldgroße Flächen vorübergleiten. Plötzlich stutzte sie: "Sind das nicht diese Dinger, die Blattgrün enthalten - Chloroplasten? Hier sind so bohnenförmige, leicht gestreifte Strukturen in den Zellen am linken, oberen Rand."
Walberg übernahm wieder den Blick in das Gerät und staunte: "Tatsächlich, eindeutig Chloroplasten!" Er stellte eine noch stärkere Vergrößerung ein. "Ganz klar, hier können Sie wunderschön die lammelenartige Struktur erkennen, auf denen der grüne Blattfarbstoff sitzt."
"Es handelt sich also um eine Pflanze, zumindest oben, an den blattähnlichen Strukturen."
Ihr euphorisches Lächeln bezauberte Walberg. "Wir hatten ja schon vermutet, dass die Farbe vom Blattgrün, vom Chlorophyll herrührt."
"Das ist zwar richtig, doch sieht mir anderes an den Zellen wirklich nicht nach Pflanze aus", entgegnete der Forscher. "Lassen Sie uns das Präparat vom Fuß des Wesens ansehen; vielleicht gibt das mehr Klarheit."
Er schleuste das eine Präparat heraus und das neue herein. Die Spannung stieg. Die Journalistin war mit ihrem Stuhl dicht an Walberg herangerückt, so dicht, dass in dem Mann unwillkürlich ein aufregendes, kribbelndes Gefühl hochstieg. Und plötzlich wurde ihm in der ruhigen feierlichen Atmosphäre des Mikroskopraumes bewusst, dass sie beide ein Geheimnis teilten, von dem bislang niemand wusste. Und dass neben ihm eine Frau saß, die ihn warum auch immer zu faszinieren begann.
"Das ist ja unglaublich!", stieß der Professor plötzlich hervor. "Hier sind eindeutig Muskelzellen..." Er starrte weiterhin in das Binokular, stellte eine stärkere Vergrößerung ein. "Es ist kein aktives, ausgebildetes Muskelgewebe, sondern scheint sich eher um degenerierte, zurückgebildete Strukturen zu handeln. Oder um Muskelgewebe, das derzeit inaktiviert ist."
Walberg drehte das Binokular wieder zu Ilona Kreutzfeld hin, die ebenfalls die feinen, parallel laufenden Stränge der Muskelzellen, die Filamente aus Aktin und Myosin erkannte, jenen beiden Eiweißen, die die Muskelkontraktion ermöglichen.
"Damit haben wir den Beweis, dass es sich tatsächlich um ein Mischwesen, um eine Chimäre aus tierischen und pflanzlichen Zellen handelt", stellte der Forscher fest. Wie unwillkürlich hatte er dabei seine Hand flüchtig auf den Unterarm der Journalistin gelegt. Als er sich dann über ihre Schulter beugte, um die Vergrößerung des Präparats nochmals zu steigern und kurz einen prüfenden Blick durch das Binokular zu werfen, ließ er seine Hand für einen Augenblick auf ihrer Schulter ruhen.
Sie schien sich dem nicht entziehen zu wollen. Doch dann rückte sie beiseite, um dem Zoologen nochmals einen eingehenden Blick auf das Gewebe zu gestatten.
"Ich denke, wir haben erstmal genug gesehen", sagte Walberg nach einigen Minuten, in denen die Frau wie hypnotisiert neben ihm gesessen hatte. "Ich bin gespannt auf die Ergebnisse der DNA-Analyse."
Wenige Minuten später saßen sie im Labor vor dem Bildschirm, der die Ergebnisse ausspuckte. Walberg blickte auf einige Kurven und versuchte sie zu deuten.
"Hier haben wir die Sequenzen der Gene aus unserem Lebewesen. So unbearbeitet sagen sie wenig. Aber wir haben ein Programm, das die Sequenzen automatisch mit denen bekannter Lebewesen vergleicht und dann ausgibt, welchem sie am meisten ähneln."
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Er betätigte einige Tastenkombinationen und musste dann eine Zeit lang warten, in der der Computer den rechenintensiven Vergleich ausführte. Mit gespanntem Gesicht blickte er mal auf die Journalistin, dann wieder auf den Bildschirm, auf dem nur "Vorgang in Arbeit" zu sehen war. Als dann das Ergebnis erschien, stieß er einen Ruf des Erstaunens aus: "Das gibt's doch gar nicht! Wir haben da sowohl pflanzliche als auch tierische Gene drin. Sehen Sie", fuhr er an die Kreutzfeld gewandt fort, wobei er sich aufgeregt am Bart kraulte, "fünf der DNA-Abschnitte müssen aus dem Tierreich stammen, von Weichtieren; sie ähneln denen beispielsweise von Schnecken. Was es genau ist, kann der Computer nicht sagen. Die drei unteren hier stammen von Pflanzen und zwar von höheren. Ja, und was noch bemerkenswerter ist, hier haben wir zwei Gene, die sich überhaupt nicht einordnen lassen."
Walberg deutete auf die letzten beiden Zeilen des oberen Fensters auf dem Bildschirm, in denen unter dem Begriff "systematische Stellung" ein Fragezeichen blinkte.
Ilona sah ihn an, und sie beide hatten den gleichen Gedanken: Das war der Beweis! Sie waren wirklich einer ungeheuren Sensation auf der Spur, einem Rätsel, für das es bislang keine Deutung gab.
"Noch etwas", fuhr der Biologe dann fort, "die Ergebnisse der beiden Proben sind absolut identisch. Das heißt, unser Lebewesen ist keine Chimäre, kein aus Zellen verschiedener Arten zusammengesetztes Wesen. Vielmehr hat es in all seinen Zellen dasselbe Genom, das aus verschiedenen Anteilen fusioniert ist. Darunter sogar Gene, die unserem Computer völlig unbekannt sind."
Beide mussten das erstmal verdauen. Von so etwas hatten sie noch nie gehört.
"Halten Sie es für denkbar, dass so ein Wesen in der Natur spontan entstehen kann?", fragte die Journalistin.
"Nein, das ist äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich", entgegnete Walberg.
"Schon die Fusion eines tierischen und eines pflanzlichen Genoms ist praktisch ausgeschlossen. Und dann noch die zusätzlichen, bislang nicht einzuordnenden Gene."
"Und ein Wesen von einem anderen Stern kann es auch nicht sein?"
"Nein, das ist nun wirklich unmöglich". Walberg musste über die Naivität der Frage schmunzeln. Eine Journalistin war eben doch keine Fachkapazität. "Sehen Sie", fuhr er fort, "es hat ja die ganz normale Erbsubstanz, das genetische Alphabet ist das irdische, und das kann nur hier auf der Erde entstanden sein. Und die meisten der Gene ähneln ja auch stark bekannten Genen."
"Dann bleibt für mich nur eine Erklärung: Das Wesen muss ein Produkt gentechnischer Manipulationen sein. Es muss künstlich gemacht worden sein."
'Scharfsinnig ist sie aber doch', musste Walberg insgeheim konstatieren und bestätigte: "Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wer dazu in der Lage sein sollte und aus welchen Gründen der Betreffende es gemacht haben könnte, aber andererseits scheint mir das auch die einzig mögliche Deutung. Übrigens bringen Sie mich da auf eine Idee. Ich kenne in Berlin einen Kollegen, einen Gentechniker namens Simon, der Spezialist auf diesem Gebiet ist. Er hat sogar mehrere Jahre in den USA gearbeitet an gentechnischen Manipulationen von Lebewesen. Den könnte ich morgen anrufen."
"Könnten Sie es nicht gleich versuchen?", drängte Ilona.
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Walberg blickte auf seine Uhr. "Es ist spät, schon bald zwanzig Uhr. Ich glaube kaum, dass er noch in seinem Institut ist."
"Versuchen Sie es trotzdem", bat die Journalistin. Walberg fühlte einen derart entwaffnenden Blick auf sich ruhen, dass er diese Bitte nicht abschlagen konnte.
"Na, gut", lächelte er. "Bei euch Medienleuten muss immer alles sofort gehen, wie?"
Sie gingen wieder hinüber in das Arbeitszimmer des Professors, und Walberg griff zum Telefonhörer.
"Hier Walberg aus Hamburg. Guten Abend, Herr Kollege. Wie geht's denn so?... Bitte entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich habe hier wirklich einen außergewöhnlichen Fall, in dem Sie vielleicht weiterhelfen können..."
Der Forscher berichtete seinem Berliner Kollegen ausführlich von dem seltsamen Lebewesen und seinen Befunden. Dann übergab er den Telefonhörer an die Journalistin, die Simon um einen Besuchstermin bat. Der Molekulargenetiker wirkte sehr interessiert und sagte einen Termin für den Nachmittag des folgenden Tages zu.
Es war neun Uhr, als Walberg die Frau noch ein Stück den neonbeleuchteten Flur hinunterbegleitete und verabschiedete. 'Irgendwie nett, diese Kreutzfeld', dachte er, als er sich wieder in seinen Schreibtischstuhl sinken ließ, um die Fakten vor seinem geistigen Auge zu ordnen.
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